Schiffbruch für die Politik
21.09.2009 1:49, Lu Yen RoloffWISMAR. Deutschlandweit ist die Werftindustrie von der Wirtschaftskrise betroffen. Die Wismarer Wadanwerft ging im September insolvent. Seither sind in der Stadt 1200 Menschen vorrübergehend bei staatlichen Transfergesellschaften beschäftigt, das Werftgelände stillgelegt. Kurz vor der Wahl wurde nun die Werft an den russischen Investor Igor Jussufow verkauft. Wie kommt der Wahlkampf bei den Wismarern in dieser Situation an?
Wismar, die alte Hansestadt an der Ostsee. Touristengruppen schlendern langsam über den Marktplatz, auf dem die Wahlfahrt09 ihren Stand aufgebaut hat. Dass Wahlkampf ist, sieht man nicht – die Stadt, deren Zentrum zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, hat sich, wie es in der Pressestelle heißt, aus „ästhetischen Gründen“ gegen jede Form von Werbung im historischen Zentrum entschieden. Erst in der so genannten „Welterbe-Pufferzone“ am Hafen beginnen die Plakatierungen der Parteien.
Wahlkampf fände in Wismar praktisch nicht statt, sagt auch Katharina Glücklich, Besitzerin eines kleinen Cafes in der Wismarer Altstadt. „Vielleicht werden mal irgendwo ein paar Fähnchen verteilt, mehr aber auch nicht.“ Generell sei die Stimmung jedoch wieder besser in der Stadt, seitdem der russische Investor Igor Jussufow die Werft für 40 Mio Euro gekauft habe. Laut Schätzungen der IG Metall Küste sollen von den rund 1200 Arbeitsplätzen in Wismar die Hälfte erhalten bleiben. Doch momentan liegt die Montagehalle der Wadan-Werft brach. Nur fünf Sicherheitsleute bewachen das Gelände, die anderen Mitarbeiter warten zuhause darauf, wie es weitergehen soll. Wie kann Wahlkampf in dieser Situation stattfinden? Und was denken die Wismarer Bürger über die Krise? Das Team der Wahlfahrt09 schwärmte in die Stadt aus und sprach mit den Wismarern über ihre Situation.
Der stellvertretende Bürgermeister
Die Wege der kommunalen Politik in Wismar sind kurz und unbürokratisch. Ob die Oberbürgermeisterin von Wismar Rosemarie Wilcken (SPD) zu sprechen sei, wollte die Wahlfahrt telefonisch vom Pressesprecher der Stadt wissen. Der winkte aus seinem Bürofenster im dritten Stock des Rathauses den Wahlfahrern auf dem Marktplatz zu. Nein, Frau Wilcken sei leider verhindert, aber ihr Stellvertreter Thomas Beyer (SPD) sei da. Etwa eine halbe Stunde später kommt Beyer strammen Schrittes über den Marktplatz gelaufen und setzt sich zum Gespräch ans den Stand. Die Werftinsolvenz sei ein Schock für die Stadt gewesen, andererseits hätte Wismar schon mehrere Werftenkrisen überstanden, sagt er. In so einer Situation müssten sich die Parteien jetzt anstrengen, bei der Bevölkerung von Wismar zu landen. Besonders der Wahlkampf sei schwer: “Das Misstrauen der Leute gegenüber einfachen politischen Parolen ist zu spüren.“ Große Wahlkampf-Veranstaltungen würden erfahrungsgemäß gar nicht funktionieren. Auch könne ein Wahlkämpfer um die derzeitige wirtschaftliche Unsicherheit der Stadt nicht herumreden: „Die Leute wollen konkrete Aussagen, was aus dem Standort Wismar wird. Es bringt nichts, den Leuten das Blaue vom Himmel zu versprechen.“ Dennoch gibt er sich zuversichtlich: „Wir sind krisenerprobt. Die Stadt ist robust und wir können auf die Erfahrung aufbauen, dass sich Engagement lohnt.” Lena Gürtler und Christian Salewski
Der arbeitslose Schiffbauer
Zischend landen die Würste auf dem Grill vor den alten Kanuschuppen. Seit er arbeitslos ist, verbringt Thomas Fischer viel Zeit in seinem Kanuverein in Wendorf – Kinder trainieren, mit Freunden grillen, selbst aufs Meer rauspaddeln – alles, damit ihm nicht die Decke auf den Kopf fällt. Fischer erinnert sich an seine letzte Nachtschicht in der Montagehalle am 31. Juli. Die Fähre lag zu 85 % fertig im Wasser, am Bug der Schriftzug „Make good times“. In den versteckten Nischen unter Deck habe der ein oder andere ein Nickerchen gehalten – man war ohnehin nur noch pro forma da. Am Schichtende erfuhr Fischer, dass er am nächsten Tag nicht wiederkommen brauche: „Die hatten schlichtweg vergessen, uns Bescheid zu sagen“. Wie viele ehemalige Werftarbeiter wartet Fischer seither auf einen Brief der mit 20,5 Millionen Euro vom Land Mecklenburg-Vorpommern finanzierten Transfergesellschaft, wie es weitergehen soll. Er versuche, Kontakt zu anderen Arbeitslosen zu halten, gehe zu Veranstaltungen der IG Metall. Es gingen viele Gerüchte unter den ehemaligen Arbeitern herum: Dass bereits eine Liste feststünde mit 200 Personen, die wieder beschäftigt werden sollen. „Die Alten und Kranken, die werden aussortiert, klar.“ Fischer hofft auf gute Karten, schließlich sei er erst 40 Jahre alt. Doch Fischer denkt wie viele andere Wismarer, dass der neue russische Besitzer nur Know-How für die vom Unternehmen geplante Werft in St. Petersburg abziehen wolle: „Das wäre dann der Untergang für Wismar“. Die Politik interessiere sich nicht für die Werftarbeiter, ist sein Gefühl: “Opel ist der Regierung wichtiger gewesen.“ Und letztendlich könne sie auch nichts machen: „Die Firma ist Privatbesitz, der kann doch damit machen, was er will.“ Fischer wird die Linke wählen: „Momentan muss Deutschland einfach wachgerüttelt werden – und das kann weder die SPD noch die CDU.“ Lu Yen Roloff
Der ehemalige Direktor der Werft
Kleingartenkolonie „Hafenblick“ im Wismarer Stadtteil Wendorf. Dahinter ragt die große Montagehalle der stillgelegten Werft auf. Drei lang verheiratete Ehepaare sitzen bei Zwiebelkuchen und Bier in der Herbstsonne, darunter auch der ehemalige zweite Direktor der Werft. Der Senior kann eisern und mit verschränkten Armen über seinen Namen und seine früheren Aufgaben schweigen, „wegen meiner Frau“, wie er sagt. Die Werft sei zwar seit der Wende immer wieder in der Krise gewesen – aber die jetzige Stilllegung habe eine neue Qualität.
Doch der Wahlkampf gehe wenig auf die aktuelle Krise ein: „Die Plakate sind groß genug, was die wollen, steht drauf – aber was sie am Ende machen können, das kommt dann nach der Wahl“. Er erinnert sich gerne an die Zeit, als die Werft in Wismar nach 1946 als Schiffsreparaturbetrieb der Roten Armee aufgebaut wurde und die Einwohnerzahl der Stadt innerhalb von zehn Jahren von 42.000 auf 55.000 Menschen wuchs. Vor der Privatisierung beschäftigte die Werft noch 6000 Menschen, die Mitarbeiter produzierten auch den Strom und führten jede Reparatur selbst aus: „Davon brauchten wir 1000 Leute gar nicht“, sagt der ehemalige Direktor, „aber wir haben die so mitarbeiten lassen, die waren eingebunden.“ Statt den Menschen Hartz IV zu zahlen, sollte man doch wie damals den Betrieben das Geld geben – und dann eine Arbeitspflicht einführen. Er verschränkt die Arme: „Engels muss man nicht neu erfinden.“ Am Tisch ist man sich einig: „Wir gehen nur zur Wahl, damit die NPD nicht über 5 % kommt.“ Viele Wismarer würden in diesem Jahr wohl die Linke wählen – denn die SPD könne ohnehin nicht alleine regieren. Lu Yen Roloff
Der Protestwähler
Pitbull Arkie muss Gassi gehen. Heiko P. (32) schlendert über den Radweg, der parallel zur Ostsee zwischen den mit dichten Buchsbaumhecken abgeschirmten Kleingärten entlangführt. Auf der anderen Seite der Bucht rauchen die Schlote seines alten Arbeitgebers Holzegger. Bis letztes Jahr hat Heiko P. dort einen Jahresvertrag gehabt, „gut bezahlt“, sagt er. Dann kam die Wirtschaftskrise und über 50 Leute mussten gehen. Jetzt, wo die Werft 1200 Menschen entlassen habe, sei die Resignation groß unter seinen Freunden.
„Man kämpft sich von Jahr zu Jahr durch“, sagt Heiko P., der vorher im CD-Werk in Dassow gearbeitet hat und dort ebenfalls entlassen wurde. So wie viele Unternehmen in Mecklenburg-Vorpommern hätte auch dieses nur Subventionen abgegriffen: „Die haben für die fünf Millionen Fördergelder erst Sektchen mit dem Wirtschaftsministerium getrunken und dann fünf Jahre später die Firma kaputt gehen lassen.“
Weil er den Vater nach dessen Schlaganfall unterstützen muss, kommt für den gelernten Schlosser nur ein Job in Wismar und Umgebung in Frage. Inzwischen arbeitet er für das Solarzentrum. Schichtarbeit bei einem Dumpinglohn von sechs Euro, 900 Euro mache das im Monat. „Wie soll man davon leben?“ fragt er. „Ich hätte als Proteststimme auch die Linke gewählt“, sagt Heiko P. „Aber die drehen sich doch auch nur nach dem Wind.“ Heiko P. wird dieses Jahr die NPD wählen. Lu Yen Roloff
Die Mutter
Raus aus der Altstadt, den Berg runter und ins Neubaugebiet. Es ist ruhig zwischen den fünfstöckigen Plattenbauten: Grillen zirpen, von den Balkonen schallt immer wieder Gelächter, zwischen den Häusern hängt die Wäsche zum Trocknen. Früher sei der Kagenmarkt das „Stiefkind“ der Stadt gewesen, inzwischen werde es besser, sagen die Anwohner. Zwar wurden gerade zwei Häuser wegen Leerstand abgerissen, gleich daneben wachsen aber ein neuer Kindergarten und eine Schule. Vor dem Supermarkt sitzt eine junge Frau mit Kinderwagen. Ob sie betroffen von der Kirse ist? „Wie soll sie uns noch treffen?“, antwortet Melanie Konow. „Wir sind sowieso Hartz-IV-Empfänger! Die Chancen auf einen Job sind halt noch schlechter geworden.“ Konow ist 23, hat ein einjähriges Kind, eine Ausbildung als Kauffrau – nur keinen Job. Kürzlich hat sie sich um einen Krippenplatz für ihre Tochter bemüht. „Ich will, dass sie unter andere Kinder kommt und nicht allein auf ihre Bauklötze starrt.“ Als sie beim Amt anrief, erklärte ihr die Sachbearbeiterin: „Sie sind doch arbeitslos und sitzen den ganzen Tag zu Hause. „Darauf habe ich dann gar nichts mehr gesagt.“ Bei ihr im Viertel hängen überall die Wahlplakate der Linken: „Wir kämpfen“ steht dort in dicken Großbuchstaben. Kita-Plätze für alle Kinder ist eine Forderung der Linken. Melanie Konow hat es auf den Plakaten gelesen, später landete noch ein Flyer in ihrem Briefkasten. Die junge Mutter geht dieses Jahr zum ersten Mal wählen, in der Hoffnung auf einen Kita-Platz für ihr Kind. „Mal schauen, ob das klappt, wenn die gewählt werden.“ Ute Zauft
Pastor Roger Thomas öffnet eine schwere Holztür, tritt aus der kühlen Kirche ins Freie. In dem kleinen Pfarr-Hof spielen seine Kinder, dahinter steigen die dunkelroten Backstein-Mauern der Kirche empor. St. Nikolai erhebt sich schon von weitem sichtbar über Wismar. Seit mehr als sieben Jahrhunderten steht die Kirche dort, heute gehören noch 700 Gemeindemitglieder zu St. Nikolai. “Ich sehe nicht, dass die wesentlichen Fragen, die uns hier beschäftigen, von den Politikern aufgegriffen werden. Vollbeschäftigung ist doch eine Illusion. Wir erleben hier jeden Tag das Gegenteil“, sagt Thomas. Einmal in der Woche kommen 90 Leute in die Kirche, um dort Mittag zu essen. Sie haben nicht viel Geld, aber vor allem fehle ihnen der Kontakt zu anderen Menschen. Solchen Leuten Vollbeschäftigung zu versprechen sei unrealistisch und unredliche Politik, sagt Thomas. „Wichtiger wäre es, Menschen eine Form der Arbeit zu bieten, die sie nicht schwach und mürbe macht.“ Auf die Partei seiner Wahl angesprochen, reagiert der Pastor ratlos: „Für mich hat keine der Parteien ein überzeugendes Konzept, das Arbeit, soziales Leben und Gerechtigkeit verbindet.“ Wählen geht er trotzdem, schließlich habe man sich die freie Wahl hier als Bürgerrecht erkämpfen müssen. Lena Gürtler
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