RSS Feed

Kooperationspartner

Das mobile Journalistenbüro
auf Deutschlandreise

Herr Grün und die Roten

11.09.2009 15:54, Jan Patjens

DUISBURG.Aus Frust über die großen Parteien haben Deutsch-Türken in Duisburg einen eigenen Wählerverein gegründet. Sie wollen Menschen aus Zuwandererfamilien für die Politik gewinnen – und stellen fest, das ist nicht immer einfach.

Richtige Wahlkampfstimmung will nicht aufkommen an diesem Septembermorgen in der Friedrich-Engels-Straße in Marxloh. Schräg gegenüber der Marktklause haben ein paar ältere Männer von der SPD einen Infostand aufgebaut, es gibt Würstchen und rot-weiße Kugelschreiber. Der Bundestagsabgeordnete Johannes Pflug kämpft im Wahlkreis Duisburg II um ein Direktmandat. Doch das Interesse der Passanten hält sich in Grenzen. Und die CDU ist gar nicht erst gekommen, sehr zum Ärger der Genossen.

Marxloh, ein Stadtteil im Norden Duisburgs. Bundesweit bekannt wegen seiner Moschee, der größten in Deutschland, vor knapp einem Jahr eröffnet. Jeder Dritte der rund 18000 Einwohner stammt aus einer Migrantenfamilie. Man hat den Stadtteil mit Berlin-Neukölln verglichen und als Ghetto bezeichnet, als ein bedürftiges, von Arbeitslosigkeit und politischer Apathie geprägtes Problemviertel. Marxloh wurde zur „Chiffre für eine deutsche Banlieu“.

Marxloh ist mehr als eine deutsche Banlieu

Doch die Wirklichkeit ist vielschichtig, anders als das Klischee. In der Weseler-Straße, der Hauptstraße von Marxloh, gibt es sie zwar, die schmutzigen Gründerzeitfassaden, Wettbüros und Spielhallen, die Döner-Imbisse und dunklen Kneipen mit aschgrauen Gardinen. Aber es gibt hier eben auch prächtige Geschäfte für Brautmoden, Juweliere und Schuhläden, Ärzte und Apotheken mit türkischen Namen. Sie stehen für den neuen Mittelstand im Viertel.

Und noch etwas passt nicht in das Bild vom Problembezirk: Die Merkez-Moschee in Marxloh wurde ganz ohne Streit geplant und gebaut. Anders als in Köln, Frankfurt oder Berlin gab es hier keine Proteste der Anwohner und keine grundsätzlichen Bedenken. Vom „Wunder von Marxloh“ war deshalb die Rede.

Ein Wunder war es wohl nicht, eher ein Beispiel für Integration: Im Vorstand der Moschee sitzen Angehörige einer jungen Generation, pragmatische Deutsch-Türken, die im Ruhrgebiet aufgewachsen und beruflich erfolgreich sind. Den Bau der Moschee haben vor allem Frauen im Alter von 30 bis 40 Jahren vorangebracht. Sie setzten sich für einen Beirat ein, dem Vertreter christlicher Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Nachbarn angehörten. Und für ein Begegnungszentrum, das allen offen steht.

Am Infostand der SPD kann man an diesem Morgen indes auch beobachten, dass es nicht immer so gut klappt mit dem Dialog zwischen Deutschen und Migranten. Und das liegt nicht nur daran, dass Berlin und der Bundestag weit weg sind. Auch bei den Kommunalwahlen Ende August hat in Marxloh gerade mal jeder vierte Wahlberechtigte seine Stimme abgegeben, Negativrekord in Duisburg. Oft ist im Stadtteil der Satz zu hören, die Migranten interessierten sich doch eh nicht für Politik.

Migranten für Politik begeistern

Schon wieder ein Klischee? Rainer Grün, 41, ist einer, der es wissen muss. Er ist Vorsitzender der „Duisburger Alternativen Liste“ (DAL), einer Wählervereinigung, die Migranten für die Politik gewinnen und ihre Interessen in der Kommunalpolitik besser zur Geltung bringen will. Sein Vater stammt aus der Türkei, seine Mutter aus Deutschland. Grün arbeitet als Wachmann und kommt gerade von der Nachtschicht. Es ist kurz nach zehn, Zeit für einen Feierabend-Tee in einem Döner-Grill an der Weseler Straße – und für ein Gespräch über Politik.

Im Wahlkampf habe er gemerkt, wie schwierig es sei, Migranten für Politik zu begeistern, sagt Grün: „Hier haben viele verinnerlicht, dass sie ‚Ausländer’ sind, sie fühlen sich nicht als Bürger.“ Außerdem trauten die meisten den Parteien nicht mehr zu, die Probleme zu lösen. Nach wie vor würden türkischstämmige Menschen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt diskriminiert, es fehle an Unterstützung für Vereine und an Angeboten für Jugendliche. „Die Resignation ist riesengroß, da ist es nicht leicht, die Leute zum Wählen zu bewegen.“

Als Spitzenkandidat der DAL hat Rainer Grün das selbst zu spüren bekommen. Nur 1,1 Prozent der Stimmen hat die Wählervereinigung bei den Kommunalwahlen in Duisburg gewonnen – das reicht immerhin für ein Mandat im Stadtrat. So wird Grün nun erstmals in das Gremium einziehen, er könnte also zufrieden sein. Doch die Enttäuschung über das schlechte Abschneiden seiner Liste überwiegt.

Trotz urdeutschem Namen auf hinterem Listenplatz

Es ist nicht die erste Enttäuschung für Grün. Als er im Jahr 2004 gemeinsam mit zwanzig anderen Duisburgern die DAL gründete, trieb ihn vor allem der Frust über die Parteien an. Grün war viele Jahre SPD-Mitglied, ein „aktiver Funktionär“, wie er sagt. Die Genossen an der Basis hätten ihn allerdings nicht recht zum Zug kommen lassen: „Ich durfte zwar Pöstchen bekleiden und Plakate kleben, wenn es aber um politische Ämter ging, war für mich Schluss.“ Die Altgedienten hätten nichts von ihrer Macht abgeben wollen, er sei nicht nach Leistung, sondern nach seiner Herkunft beurteilt worden. „Trotz meines urdeutschen Namens“, sagt Rainer Grün.

Ähnlich erging es anderen Gründungsmitgliedern der DAL, zum Beispiel Gürsel Dogan: Er war lange in der CDU, kehrte der Partei aber den Rücken, als sie ihn vor der Ratswahl 2004 auf einen aussichtslosen Listenplatz setzen wollte. „Wir hatten keine Chance, und das ausgerechnet in Duisburg“, sagt Grün. Die Parteien trügen selbst dazu bei, dass Migranten sich von ihnen abwendeten.

Dabei müssten die Parteien eigentlich großes Interesse an Leuten wie Rainer Grün haben. Rund 700.000 türkischstämmige Wähler gibt es in Deutschland, fast jeder Fünfte Einwohner ist zugewandert oder ein Kind oder Enkel von Migranten. In manchen westdeutschen Großstädten wird in einigen Jahren die Hälfte der Jungwähler aus Migrantenfamilien stammen.

Integration ist Randthema im Wahlkampf

Kein Wunder also, dass die Parteien um Zuwanderer werben und sie offiziell willkommen heißen. Spitzenpolitiker wie Cem Özdemir und Lale Akgün, Bülent Arslan und Hakki Keskin sollen Migranten ansprechen. Die Förderung von Integration steht in allen Parteiprogrammen – immerhin ist das Thema in der Bildungs-, Familien-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik von entscheidender Bedeutung.

Doch im Bundestagswahlkampf spielt Integration kaum eine Rolle. Für Schlagzeilen sorgte allein Jürgen Rüttgers, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, als er bei einem Wahlkampfauftritt in Duisburg rumänische Arbeiter beschimpfte: Die kämen nicht pünktlich zur Schicht und wüssten nicht, was sie tun.

Und an der Parteibasis stoßen Migranten oft auf Ablehnung, sie haben es schwer, attraktive Listenplätze zu ergattern. Im Bundestag sitzen derzeit fünf türkischstämmige Abgeordnete, zur Zeit der rot-grünen Koalition waren es sogar nur zwei. In diesem Jahr kandidieren zwar mehr als zwei Dutzend Deutsch-Türken für den Bundestag, die meisten von ihnen rangieren jedoch auf hinteren Listenplätzen und haben kaum Aussicht auf ein Mandat.

Ein Drittel Migranten, ein Sechstel migrantische Abgeordnete

In Duisburg sieht es ganz ähnlich aus. Ein Drittel der knapp 500.000 Einwohner hat hier einen so genannten Migrationshintergrund, im Stadtrat sind derzeit jedoch nur fünf von 74 Abgeordneten türkischer Herkunft. Einer von ihnen ist Gürsel Dogan, jener Kommunalpolitiker, der die CDU 2004 verlassen hatte und als DAL-Kandidat ein Mandat gewann. Er schloss sich bald der CDU-Ratsfraktion an und trat seiner alten Partei wieder bei. In seinem Wahlkreis Duisburg-Hochfeld ist er vor zwei Wochen direkt gewählt worden.

Eine kleine Erfolgsgeschichte, keine Frage. Dem neuen Stadtrat werden nun immerhin acht Abgeordnete aus Zuwandererfamilien angehören. Und zur Bundestagswahl tritt in Duisburg wenigstens ein Direktkandidat türkischer Herkunft an: Hüseyin Aydin von den „Linken“. „Die Situation hat sich etwas verbessert“, sagt Rainer Grün, „einige Parteimitglieder haben ihre Lektion gelernt.“ Das sei auch ein Verdienst der DAL.

Im Stadtrat will Grün, der ehemalige Sozialdemokrat, nun den CDU-Oberbürgermeister unterstützen. „Wir haben uns zwar aus Protest gegründet, wollen aber konstruktiv Politik machen“, sagt er. Und registriert mit Genugtuung, dass die Ratsfraktionen jetzt um seine Stimme werben.

Schnellboot der Migration in die Politik

Dennoch wollen Grün und die DAL weiter gegen die Politik- und Parteienverdrossenheit vieler Migranten kämpfen. „Keine Integration ohne Mitbestimmung“ lautet einer ihrer Slogans. „Wir wollen Leute aus der Basis ins Rathaus schicken, wir sind das Schnellboot der Migration in der großen Politik“, sagt Grün und klingt fast schon wie ein Berufspolitiker. Mittlerweile hat die Wählervereinigung 25 Mitglieder, darunter sind viele Frauen. Fast alle sind Deutsch-Türken, obwohl man keine reine Migrantenliste sein will und auch ein deutscher Arzt dabei ist. „Dal“ ist das türkische Wort für Ast. „Wir wachsen“, sagt Grün, „und man kann sich an uns festhalten.“

Fragt man Abdullah Küҫük, warum er sich für die DAL engagiert, dann sagt er: „Ich bin Deutscher, gelte hier aber immer noch als ‚Ausländer’. Das will ich mal abschaffen.“ Küҫük, 36, ist in Duisburg geboren und in Marxloh aufgewachsen. Er hat bei Thyssen eine Ausbildung zum Verfahrenstechniker gemacht und arbeitet heute im Stahlwerk Hamborn. „Viele meiner Freunde haben studiert, einige sind Ärzte oder Geschäftsleute geworden“, sagt er. „Wir stehen für gelungene Integration, die Parteien verwenden nur das Wort.“ Auch in der Bundespolitik dienten ihnen türkischstämmige Abgeordnete oft nur als Aushängeschild.

Abdullah Küҫük hat bei den Kommunalwahlen in Alt-Hamborn kandidiert, seine Frau Ebru, 28, trat in Marxloh an. Ein Mandat für die Bezirksvertretung haben beide nicht gewonnen. Doch das sei auch gar nicht so wichtig, sagt er. Es gehe ihm vor allem darum, dass Menschen türkischer Herkunft überhaupt wahrgenommen würden, auf allen Ebenen der Politik. „Geh’ zur Wahl!“, das sei der wichtigste Appell der DAL.

Bockwurst statt Baklava

In der Friedrich-Engels-Straße haben die Genossen ihren Stand inzwischen wieder abgebaut. Die SPD habe überhaupt keine Schwierigkeiten, mit Migranten ins Gespräch zu kommen, sagt einer. „Wir haben auch selbst welche dabei, das entwickelt sich schon.“ Sicher ist, dass die großen Parteien es sich immer weniger leisten können, die Gruppe der Migranten zu vernachlässigen. Und vielleicht hilft es ja schon ein bisschen, wenn der SPD-Ortsverein im nächsten Bundestagswahlkampf nicht nur mit Bockwurst, sondern auch mit Baklava auf Wählerfang geht.

Rainer Grün jedoch kann es sich vorerst nicht vorstellen, zu den Roten zurückzukehren.

 

Mit Dank an unsere Sponsoren:

 
© WAHLFAHRT09 | Alle Rechte vorbehalten. Impressum Kontakt